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Franziska.ch > Jakobsweg > Frankreich > 15. April Le Puy - St.Privat d'Allier









"Uff, wo fange ich jetzt nur an? Zuerst noch zu gestern, hab’ ja nur grad meine Krise geschrieben. Ich glaub’, ich bin etwa 6 1/2 Stunden gelaufen. Ui, einen mega Verlaufer hat’s noch gegeben! Also, nicht im Sinne von verirrt, sondern an einen völlig falschen Ort hingelaufen. Da stand ich in einem Dorf, dessen Name ich zuerst auf der Karte gar nicht finden konnte, weil er eben ganz wo anders ist. Wie das passieren konnte, ist mir unklar, ich bin nämlich immer den rot-weissen Markierungen gefolgt. So eine Verarschung aber auch! Aber es hat mich garnicht gestresst, ich bin einfach auf der Verbindungsstrasse in die Richtung StJulien de Captueil gelaufen. Und weil die Distanz ungefär gleich war, die ich zurückgelegt hatte, versuchte ich es per Autostop, anstatt mir die Füsse auf dem Teer zu ruinieren. Ein Kaminfeger nahm mich mit. Das bringt sicher Glück, hab’ ich mir gedacht. Ja, er hat mich dann per Zufall genau an einer Kreuzung abgesetzt, wo es schon wieder eine Jakobs-Markierung hatte. Konnte also easy weiterlaufen, ausser, dass es mir vom Autofahren etwas schlecht geworden ist. Seit zwei Tagen geht ein ganz brutaler Wind, gegen den muss man so richtig kämpfen. Der ist so stark, dass er sogar meine Frisur verweht!
Da bin ich also langsam in Richtung Stadt gekommen, leider alles Teerstrassen und auch noch viele Autos. Je näher ich dem Zentrum kam, umso schlimmer wurde es. Es hat mich recht angeschissen, der Lärm, der Dreck, der Gestank, die Eile, am liebsten wäre ich grad wieder umgekehrt. Die Lage der Stadt hat aber schon von weitem beeindruckt. Endlich da, ging ich erstmal auf das Touristenbüro und erkundigte mich nach den Sachen die ich brauchte. Dann ging ich zur Post und, oh Freude, es hatte wirklich Briefe für mich. Dann reservierte ich im Internetcafé eine Stunde, ging in die Jugi, duschte, traf eben Iseut, die Bernerin, packte meine Wäsche zusammen, ging zur Kathedrale...der absolute Wahnsinn. Das Steinzeugs liebe ich ja sowieso, und dann diese Kirche, ich kann’s gar nicht sagen! Hatte aber keine Zeit, es wirken zu lasse, sondern holte nur den Stempel, ging bei zwei Bücherläden vorbei, brachte die Wäsche in den Salon und ging meine Mails lesen. Oh nochmals Freude, da waren ganz viele. Wenige konnte ich kurz beantworten, dann ging das Café zu. Dann tat ich die Wäsche in den Trockner und setzte mich eben in die Bar und schrieb. Vorher habe ich noch schnell Papis Brief gelesen und konnte es auch nicht geniessen. Da hatte ich eben diese Vollkriese. So viele Eindrücke hätten verarbeitet werden wollen, und ich musste sie alle beiseite schieben und vorwärts machen, ich wollte ja nicht in dieser Stadt bleiben. Sie hätte mir zwar schon gefallen, aber ich musste wieder raus, meine Ruhe haben.
Es war für mich so schlimm, unter diesem selbstgemachten Druck zu stehen, und alles zusammen war eben zuviel. Hätte ich jedes von diesen Dingen aneinem einzelnen Tag erleb, wäre das Gut gewesen, ich hätte sie annehmen und geniessen können. Aber so war ich nicht bei den Dingen, die ich tat, und konnte nicht auf sie reagieren. Das hat mich überwältigt. Hier hat alles seine Zeit und Ruhe. Das ist gut. Jedenfalls habe ich mir vorgenommen, das so etwas nicht mehr passiert. Ich will es nicht mehr aufgeben, bei den Dingen zu sein, gewahr zu sein. Ich kam also ziemlich zerknittert zurück in die Jugi und weil ich doch mit ihr reden wollte, ging ich trotzdem mit Iseut essen. Und das hat auch sehr gut getan, sie hat ja auch einen andern Rhythmus. Es hat mich auch etwas beruhigt, dass sie oft gleicher Meinung mit mir war und ich also noch nicht ganz verrückt geworden bin. (Heute zwar vielleicht schon, aber dazu später.)

Heute bin ich ganz früh aufgestanden und ging um 7 Uhr in die Kathedrale zur Pilgermesse und Segen. Verstanden habe ich eigentlich nichts ausser Amen, hab auch nicht wirklich zugehört, aber war noch nie so andächtig. Die meiste Zeit habe ich ein bisschen vor mich hingeweint und seit Jahren wiedermal bei der Kommunion mitgemacht. Ich habe zur Religion, zu Gott oder einfach zum Glauben ein anderes Verhältnis, jetzt. Und so ist es gut, es gefällt mir, so ist es sehr schön. Am Ende bin ich dann zu hinterst in eine Reihe gegangen, habe mich an eine versteckte Seule gelehnt und richtig geweint. Warum? Das kann ich jeweils nicht sagen, ist mir auch egal, weine einfach. Und manchmal scheint es nie enden zu wollen. Ich habe noch lange nicht ausgeweint. Es stört mich nicht. Es ist ein Weinen, ich kann es nicht beschreiben, ich sage mal aus Überwältigung. Nicht, weil mir etwas weh tut, oder nicht passt oder ich etwas ändern möchte. Eben einfach ein Weingefühl. Ich bin eine Heulsuse.
Dann: Führer gekauft, Kopien gemacht, Frühstück gegessen, gepackt, von Iseut verabschiedet, Karte gekauft, Papeterie gesucht, Geld geholt und endlich, endlich losgelaufen. Und da war ich auch schon bald wieder in Ordnung. Es hat mich etwas gestresst, dass heute von Le Puy aus so viele Leute gestartet sind, ich will doch alleine sein. Aber jetzt stört es mich nicht mehr, ich bin eh die Schnellste und man wird sich bald verteilt haben. Jedenfalls bin ich heute mal nicht die Einzige in einer Gite.
Wieder dieser Wind heute. Ich habe mich an einen etwas geschützten Wegrand gesetzt, um etwas zu essen. Da höre ich eine Frauenstimme und als ich aufschaue, sehe ich eine grosse Schafherde. Wenn ich mich nicht bewege, wird es gehen, meinte sie. Für einen Moment war ich ein Schaf unter vielen! Das fand ich lustig.

Da bin ich grad über einen Hügel gelaufen, sehe die Aussicht, die Sonne, das kleine Dorf, und da kommt es über mich. Freude schöner Götterfunken johlend hüpfte ich mit meinem Rucksack den Weg hinunter. Ich war federleicht. Ich stehe still, schaue mich um und da kommt es noch mehr über mich, dieses Gefühl absoluten Glücks. Ich kann es weder beschreiben noch ausdrücken. Ich singe, tanze, schreie, drehe mich im Kreis, beginne zu rennen. Es möchte nicht aufhören, nein, wird fast noch stärker. Für eine kurze Zeit bin ich nicht mehr, nur noch ales. Ich habe das Bedürfnis, es rauszulassen, ich glaube, sonst zu explodieren, es wird fast unerträglich, man möchte sterben, oder merkt, das das nichts bringt, weil man es schon ist. Es gibt keine Zeit mehr. Alles verfliesst, nein, es ist ja nur eins. Dann kommen die Tränen. Das Weinen aus Überwältigung. Weinen aus Freude?
Wieviel Glück kann man ertragen? Wieviel Glück wird man je spüren? Kann es noch mehr sein? Warum muss ich dabei weinen? Warum glaube ich zu zerbersten?
Diese Fragen, aber eigentlich ist es mir auch egal. Wie auch immer es sein mag. Ist doch schön, dass ich das erlebe. Ich werde nicht verrückt, auch wenn ich manchmal nicht erklären kann, was mir mir passiert. Ich habe tiefes Vertrauen.

Es waren etwa 5 Stunden."